Neurogenes Zittern wird von einer Frau praktiziert.

Neurogenes Zittern: Der Körper als Weisheitslehrer

Hast du schon einmal beobachtet, wie ein Reh nach einer Flucht vor einem Raubtier am ganzen Körper zittert, bevor es wieder ruhig zu grasen beginnt? Oder wie dein Hund nach einem Schreck seine Muskeln schüttelt, als würde er etwas von sich abwerfen? Was in der Tierwelt völlig natürlich erscheint, haben wir Menschen größtenteils verlernt – neurogenes Zittern. Dabei könnte genau diese ursprüngliche Körperreaktion der Schlüssel zu einer tiefgreifenden Transformation von Stress und innerer Entwicklung sein.

Was ist neurogenes Zittern?

Neurogenes Zittern beschreibt unwillkürliche, rhythmische Muskelkontraktionen, die vom Nervensystem ausgelöst werden. Der Begriff setzt sich aus den griechischen Wörtern “neuron” (Nerv) und “genesis” (Entstehung) zusammen und verdeutlicht bereits die neurologische Grundlage dieses Phänomens. Im Gegensatz zu pathologischem Zittern bei neurologischen Erkrankungen handelt es sich hierbei um eine natürliche, adaptive Reaktion des autonomen Nervensystems.

Diese Form des Zitterns entsteht in den tiefsten Schichten unseres Nervensystems. Es entspringt im Stammhirn und in den primitiven Reflexzentren, die bereits entstanden sind, bevor unser Großhirn seine komplexen Denkprozesse entwickelte. Es ist ein evolutionäres Erbe, das alle Säugetiere teilen und das darauf ausgelegt ist, überschüssige Aktivierungsenergie nach Stress- oder Gefahrensituationen zu entladen.

Die neurobiologische Grundlage: Wie dein Nervensystem funktioniert

Um die Wirkung des neurogenen Zitterns zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Funktionsweise unseres autonomen Nervensystems werfen. Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges erweitert unser traditionelles Verständnis vom zweiteiligen autonomen Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) um ein dreistufiges Modell: den ventralen Vaguskomplex (sozialer Verbindung), den Sympathikus (Kampf-oder-Flucht) und den dorsalen Vaguskomplex (Erstarrung/Kollaps).

In Gefahrensituationen aktiviert der Sympathikus eine Kaskade von Stresshormonen wie Adrenalin und Cortisol, mobilisiert Energie und bereitet den Körper auf Höchstleistung vor. Wenn weder Kampf noch Flucht möglich sind, kann das System in den dorsalen Vagus-Zustand wechseln – eine Art Notabschaltung, die sich als Erstarrung oder emotionale Taubheit zeigt.

Während Tiere nach einer bedrohlichen Situation instinktiv zittern und dadurch die aufgebaute Energie wieder entladen, unterdrücken wir Menschen diesen natürlichen Reflex häufig. Wir haben gelernt, “stark” zu sein, uns zusammenzureißen und unsere Emotionen und Gefühle zu kontrollieren. Diese kulturelle Konditionierung führt jedoch dazu, dass Aktivierungsenergie in unserem Nervensystem “hängen bleibt” und sich als chronische Anspannung, Ängste oder sogar traumatische Symptome manifestiert.

Das folgende Video zeigt ein beeindruckendes Beispiel aus dem Tierreich: Ein Impala wird von einem Leoparden angegriffen und stellt sich tot. Zufällig kommen Paviane vorbei und vertreiben den Leoparden. Danach beginnt das Impala zu zittern – ein natürlicher neurogener Prozess, mit dem der Körper das Trauma abschüttelt und sich wieder aktiviert. Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Selbstregulation in der Natur durch neurogenes Zittern funktioniert.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Standard. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Weitere Informationen

David Berceli und die Entwicklung von TRE®

Der australische Therapeut David Berceli revolutionierte unser Verständnis des neurogenen Zitterns durch seine systematische Erforschung und Entwicklung der TRE®-Methode (Tension & Trauma Releasing Exercises). Als Sozialarbeiter in Krisengebieten beobachtete Berceli, dass Menschen, die ihre natürlichen Zitterreflexe zuließen, schneller von traumatischen Erlebnissen zu innerer Stärke zurückfanden als jene, die diese unterdrückten.

Berceli erkannte, dass bestimmte Körperübungen das neurogene Zittern gezielt auslösen können. Seine Arbeit basiert auf der Erkenntnis, dass der Musculus psoas – unser tiefster Rumpfmuskel, der oft als “Seelenmuskel” bezeichnet wird, eine zentrale Rolle bei der Stressregulation spielt. Dieser Muskel verbindet die Lendenwirbelsäule mit dem Oberschenkel und reagiert besonders sensibel auf emotionale Belastungen.

Neurogenes Zittern 7 Übungen: Ein praktischer Einstieg

Die von David Berceli entwickelte Methode zielt darauf ab, durch gezielte Muskelermüdung das autonome Nervensystem zu aktivieren und den Körper in den natürlichen Zittermodus zu bringen – Neurogenes Zittern. 7 Übungen zeigen, wie dieser Prozess Schritt für Schritt funktioniert:

Übung 1: Stressrelease durch Bewegung

Du beginnst mit lockeren Bewegungen, die den ganzen Körper aktivieren – ähnlich wie beim Aufwärmen vor dem Sport. Das können Arm- und Beinbewegungen, sanfte Drehungen oder ein lockeres Schütteln sein.

Übung 2-4: Gezielte Muskelermüdung

Die folgenden Übungen konzentrieren sich auf die Aktivierung und anschließende Ermüdung spezifischer Muskelgruppen, insbesondere der Bein- und Rumpfmuskulatur. Durch kontrollierte Anspannung und Entspannung bereitest du deinen Körper auf das Zittern vor.

Übung 5-6: Psoas-Aktivierung

Diese Übungen zielen direkt auf den Psoas-Muskel ab. Durch spezielle Positionen und Bewegungen wird dieser tiefe Muskel aktiviert und zur Entspannung angeregt.

Übung 7: Ruheposition und Zittern zulassen

In der finalen Position liegst du entspannt und erlaubst deinem Körper zu zittern, wenn er möchte. Hier zeigt sich die eigentliche Magie der Methode – du übst dich darin, Kontrolle abzugeben und deinem Körper zu vertrauen.

Neurogenes Zittern Wirkung: Was passiert?

Die Wirkung durch neurogenes Zittern ist vielschichtig und individuell unterschiedlich. Auf physiologischer Ebene aktiviert das Zittern den Vagusnerv – den längsten Hirnnerv, der eine Schlüsselrolle bei der Regulation des Parasympathikus spielt. Dies führt zu einer Reduktion von Stresshormonen und einer Aktivierung der körpereigenen Entspannungsreaktion.

Viele Menschen berichten nach regelmäßiger Praxis von verbessertem Schlaf, reduzierter Angst, weniger Muskelverspannungen und einem allgemein erhöhten Wohlbefinden. Besonders interessant ist die Beobachtung, dass sich oft auch emotionale Blockaden lösen können. Nicht selten entstehen während des Zitterns spontane Erinnerungen, Bilder oder Gefühle – ein Zeichen dafür, dass der Körper gespeicherte Erfahrungen verarbeitet.

Kann neurogenes Zittern Trauma auflösen?

Besonders bei Entwicklungstrauma – jenen subtilen, aber prägenden Verletzungen aus der frühen Kindheit – kann das neurogene Zittern wertvolle Entwicklungsimpulse setzen. Entwicklungstrauma entsteht oft nicht durch einzelne dramatische Ereignisse, sondern durch chronische Dysregulation in frühen Bindungsbeziehungen. Diese frühen Prägungen manifestieren sich als unbewusste Körpermuster, die sich durch bewusste Reflektion allein schwer verändern lassen.

Das neurogene Zittern bietet einen direkten Zugang zu diesen eingefrorenen Energien und unbewussten Mustern. Es ermöglicht dem Körper, das zu vollenden, was in der ursprünglichen Situation unterbrochen wurde. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass TRE® bei schwerwiegenden Traumata professionelle Begleitung erforderlich machen kann.

Führungskräfte und Selbstführung: Neurogenes Zittern im Management

In der heutigen Geschäftswelt stehen Führungskräfte unter enormem Druck. Ständige Entscheidungen, hohe Verantwortung und die Erwartung, immer “on” zu sein, führen zu chronischer Übererregung des Nervensystems. Hier kann das neurogene Zittern zu einem wertvollen Werkzeug der Selbstführung werden.

Gute Führungsstärke zeigt sich nicht darin, permanent unter Hochspannung zu stehen, sondern in der Fähigkeit zur flexiblen Regulation des eigenen Aktivierungsniveaus. Eine Führungskraft, die ihre eigenen Stresszyklen bewusst schließt, kann authentischer, empathischer und letztendlich effektiver führen. Das neurogene Zittern ermöglicht es, nach intensiven Meetings oder schwierigen Entscheidungen bewusst herunterzuregulieren.

Stell dir vor, du könntest nach einem konfliktreichen Gespräch mit deinem Team nicht nur mental, sondern auch körperlich einen Schlussstrich ziehen. Das Zittern hilft dabei, die aufgestaute Anspannung abzubauen, bevor sie sich als chronischer Stress manifestiert oder unbewusst auf deine Mitarbeiter überträgt. Dies ist besonders wichtig, da Führungskräfte oft als emotionale Ansteckungsquelle für ihr gesamtes Team fungieren.

Selbstführung durch neurogenes Zittern bedeutet auch, ein neues Verständnis von Sensibilität und Stärke zu entwickeln. Du lernst, dass wahre Führungskompetenz die Fähigkeit zur Selbstregulation einschließt – und dass diese Regulation manchmal bedeutet, dem Körper zu erlauben, was er braucht, auch wenn es unkonventionell erscheint.

Wie lange neurogenes Zittern?

Eine häufig gestellte Frage lautet bei neurogenes Zittern. Wie lange sollte praktiziert werden? Die Antwort ist individuell und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Berceli empfiehlt Anfängern, mit 15-20 Minuten zu beginnen und die Dauer nur langsam zu steigern. So handhabe ich es persönlich auch. Während manche Menschen bereits nach wenigen Minuten zittern, benötigen andere eine längere Vorbereitungszeit.

Entscheidend ist nicht die Dauer, sondern die Qualität der Erfahrung. Dein Körper ist der beste Ratgeber – wenn das Zittern nachlässt oder du dich unwohl fühlst, ist es Zeit für eine Pause. Regelmäßigkeit ist wichtiger als Intensität. Lieber täglich 10 Minuten als einmal wöchentlich eine Stunde.

Die Integration: Neurogenes Zittern im Alltag

Die wahre Kraft des neurogenen Zitterns entfaltet sich in der Integration. Es geht nicht nur darum, eine weitere Entspannungstechnik zu erlernen, sondern ein neues Körperbewusstsein zu entwickeln und deine Erfahrung mitzuteilen oder aufzuschreiben. Dadurch lernst du, die Signale deines Nervensystems wahrzunehmen, angemessen darauf zu reagieren und das Erfahrene zu integrieren.

Dies kann bedeuten, dass du nach einem stressigen Arbeitstag bewusst Zeit für das Zittern einplanst, anstatt den Stress zu ignorieren. Oder dass du lernst, auch kleinere Zitterbewegungen im Alltag zuzulassen, wenn dein Körper sie braucht. Diese Integration verwandelt TRE® von einer Technik zu einer Lebensweise.

Grenzen und Vorsichtsmaßnahmen

Wie bei jeder körperorientierten Methode gibt es auch beim neurogenen Zittern wichtige Sicherheitsaspekte zu beachten. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, unkontrollierten epileptischen Anfällen oder bestimmten körperlichen Einschränkungen sollten neuogenes zittern bzw. TRE® nur unter professioneller Anleitung praktizieren.

Besonders bei einer Traumageschichte kann das Zittern intensive Reaktionen auslösen. Hier ist Selbstregulation entscheidend – du musst lernen, das Zittern zu dosieren und bei Bedarf zu stoppen. Das Motto lautet: “Weniger ist mehr” und “Sicherheit geht vor”.

Wissenschaftliche Einordnung und Forschung

Die Forschung zum neurogenen Zittern steckt noch in den Anfängen, aber erste Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse. Untersuchungen haben gezeigt, dass TRE® zu einer signifikanten Reduktion von PTSD-Symptomen, Angst und Depression führen kann. Neurologische Messungen bestätigen die Aktivierung des Parasympathikus während der Praxis.

Dennoch bleibt die neurogenes zittern Erklärung aus wissenschaftlicher Sicht komplex. Das Zusammenspiel zwischen bewusster Bewegung, unbewussten Reflexen und emotionaler Verarbeitung ist noch nicht vollständig verstanden. Dies sollte jedoch nicht davon abhalten, die praktischen Erfahrungen ernst zu nehmen.

Ein persönlicher Weg der Lösung

Neurogenes Zittern ist mehr als eine Entspannungstechnik. Es ist eine Einladung, deinem Körper wieder zu vertrauen und seine angeborene Weisheit zu würdigen. In einer Welt, die uns ständig zur Kontrolle und Unterdrückung natürlicher Impulse anhält, bietet TRE® einen Raum der Authentizität und des Loslassens.

Die Reise mit dem neurogenen Zittern ist zutiefst individuell. Manche Menschen erleben sofortige Erleichterung, andere brauchen Wochen oder Monate, bis sie Veränderungen bemerken. Wichtig ist, dass du dir selbst die Zeit gibst, die du brauchst, und dich nicht unter Druck setzt.

Ausblick: Die Zukunft der Körperarbeit

Das Interesse am neurogenen Zittern spiegelt einen größeren gesellschaftlichen Wandel wider – weg von rein kognitiven Therapieansätzen hin zu ganzheitlichen, körperorientierten Methoden. Wir beginnen zu verstehen, dass der Körper nicht nur der Austragungsort unserer Probleme ist, sondern auch deren Lösung in sich trägt.

Die Integration von uraltem Körperwissen mit modernen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen eröffnet neue Perspektiven für persönliches Wachstum. Vielleicht ist das neurogene Zittern ein Brückenbauer zwischen der natürlichen Weisheit und den Möglichkeiten der Zukunft.

Aus meiner eigenen jahrelangen Coaching-Erfahrung mit verschiedenen Formen der Körperarbeit – von TRE® über Bioenergetik* bis hin zu Kum Nye* – weiß ich, wie transformativ solche Ansätze sein können. Jede Methode hat ihre eigenen Qualitäten und Zugänge zum Körperwissen, doch alle verbindet die Erkenntnis, dass unser Körper ein intelligentes System ist, das zur Selbstheilung fähig ist.

Diese Selbsterfahrung fließt in meine Coaching-Arbeit mit Menschen ein, die einen neuen Zugang zu ihrer eigenen Körperweisheit suchen. Im Coaching begleite ich Menschen dabei, ihre individuellen Wege zur Selbstregulation zu entdecken und zu kultivieren. Ich befinde mich übrigens aktuell in der TRE®-Ausbildung und freue mich darauf, es bald als weiteres Tool in meinem Coaching-Werkzeugkoffer anbieten zu können.

Was interessiert dich am neurogenen Coaching? Welche Erfahrungen hast du bereits gemacht? Schreibe deine Antworten gerne weiter unten in die Kommentare.

Thomas Waaden
Möchtest du mehr über Körperarbeit oder Neuerogenes Zittern erfahren oder es in einem persönlichen Coaching nutzen?

Melde dich für ein kostenloses Kennenlerngespräch!

Buchempfehlungen rund um das Thema Neurogenes Zittern

FAQ: Fragen und Antworten rund um das Thema Neurogenes Zittern

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen